Nicht ohne Grund haben wir uns für diesen Artikel entschieden. Damals flohen drei Millionen Menschen aus dem Sudetenland, derzeit sind mehrere Millionen Menschen aufgrund des Ukraine Krieges auf der Flucht. Diese Menschen müssen ihr Hab und Gut zurücklassen, um ihr Leben zu retten. Sie wandeln im Ungewissen; wohin sie gehen können, was mit ihnen passiert, ob sie wieder zurück nach Hause können, und was mit ihren Liebsten ist. Vom einen auf den anderen Tag hat sich für sie alles verändert. Denn ihnen droht der Tod. Wir möchten an dieser Stelle den jetzigen Krieg in der Ukraine nicht mit dem 2. Weltkrieg gleichsetzen. Uns geht es darum zu zeigen, was es für einen Menschen bedeutet alles zu verlieren bzw. alles zurücklassen zu müssen und in die Fremde und Ungewissheit zu gehen. Hier geht es um das Leid des Einzelnen, was der Krieg und die Flucht mit einem Menschen macht.
Sudetendeutsche sind Deutsche, die in Böhmen, Mähren und Österreich-Schlesien lebten. Sie waren eine deutsche Minderheit innerhalb der damaligen Tschechoslowakei, die Gebiete waren jahrhundertelang die Heimat der Sudetendeutschen. Die Bezeichnung “Sudetendeutsche“ kommt von dem ca. 330 Km langem Gebirgszug der Sudeten. Der Gebirgszug verbindet das Erzgebirge mit den Karpaten. Sowohl das Riesengebirge, als auch das Isergebirge, das Adlergebirge und das Altvatergebirge gehören zu der Region und sind ein Teil der Tschechoslowakei.
Mit Ende des zweiten Weltkriegs im Mai 1945 setze die Vertreibung der Sudetendeutschen ein, die Vertreibung derer aus ihrer jahrhundertelangen Heimat verlief in 2 Hauptphasen.
1. Haupthase: Von Mai bis Dezember 1945: Massenaustreibungen (wilde Vertreibungen)
2. Hauptphase: Vom 25. Januar 1946 bis 27. November 1946: Massenvertreibung (Odsun)
Insgesamt wurden ca. 3 Millionen Menschen der bis dahin ca. 3,2 Millionen im Land lebenden Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei vertrieben. Sie wurden unter Androhung und Anwendung von Gewalt zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen, ihr eigenes Vermögen wurde konfisziert und der Besitz enteignet.
Meine Großmutter lebte mit ihrer Familie früher in einem Dorf mit Namen Katscher. Sie hatte noch 4 Geschwister, eine Schwester und 3 Brüder, sie war das älteste Kind. Das Dorf Katscher gehörte zu Senftenberg in Böhmen und ab 1938 zum Landkreis Grulich. Der Ort liegt auf den Ausläufern des Adlergebirges nicht weit entfernt von der damaligen Grenze zu Schlesien. Im Jahre 1939 lebten in Katscher 317 Einwohner. Es gab ein Gasthaus, eine Volksschule für die erste bis achte Klasse, eine katholische Kirche, ein Lebensmittelladen, einen Schuster und einen Arzt. Die Familie meiner Großmutter besaß eine circa 20 Hektar große Landwirtschaft mit Pferden, Hühnern, Kühen, Gänsen, Schweinen, Schafen und Ziegen. Sie bauten Weizen, Roggen, Hafer, Gerste, Flachs, Futterrüben und Kartoffeln an. Etwas Wald gehörte auch zum Besitz. Ein Großteil der Lebensmittel wie Obst und Gemüse bezogen sie aus einem Nutzgarten hinterm Haus.
Im Juni 1946 wurde meine Großmutter dann, damals war sie 24 Jahre alt, mit ihren Eltern und ihrem jüngsten Bruder und ihrer Schwester aus ihrem Haus und von ihrem Bauernhof vertrieben. Der älteste Bruder war als Soldat gefallen, ein anderer Bruder, der Marinesoldat gewesen war, war noch in Gefangenschaft in Dänemark. Alle Einwohner Katschers mussten sich auf dem Dorfplatz versammeln und durften nur einen Koffer bei sich haben. Als Kennzeichen, dass sie Deutsche waren, mussten sie eine Armbinde mit dem Buchstaben „N“ (Nemec=Tschechische Bezeichnung für Deutscher) tragen. Mit offenen Lastwagen wurden sie zunächst nach Niederlipka in die Nähe der Kreisstadt Grulich gebracht. Dort mussten sie zunächst einige Tage verbringen, da dort auch Vertriebene aus anderen Orten für den Weitertransport gesammelt wurden. Geschlafen werden musste auf dem Fußboden. Von Grulich aus ging es mit Lastwagen durch das Riesengebirge in die Sowjetische Besatzungszone, die spätere DDR. Zwischendurch wurden die Flüchtlinge in Züge umgeladen und mussten die weitere Strecke mit jeweils 25 -30 Personen in Viehwaggons verbringen. Als Toilette gab es nur einen Eimer. Die Essensrationen waren – wenn überhaupt welche verteilt wurden – sehr klein. Die Leute lebten vornehmlich von dem, was sie mitgenommen hatten. Die Fahrt ging dann über bis nach Mecklenburg- Vorpommern in das Sammellager Flechenow, ein ehemaliges Lager für russische Gefangene während des Krieges. Dort verbrachten sie wieder einige Zeit in Blockhütten mit Schlafpritschen, bis es dann mit Bussen über Schwerin zum endgültigen Zielort Gadebusch ging, wo der Familie eine Zwei-Zimmer-Wohnung zugeteilt wurde. Dort blieb die Familie. Meine Großmutter floh Jahre später bei Ratzeburg über die Grüne Grenze nach Westdeutschland und über Hamburg nach Bad Nenndorf, wo sie eine neue Heimat gefunden hat.
Haben wir tatsächlich etwas aus der Vergangenheit gelernt? Was haben wir aus den Gräueltaten, die in der Vergangenheit passiert sind, gelernt und welche Schlüsse sollten wir daraus für die jetzige Situation ziehen? Welches Handeln sollten wir anstreben? Was sollten wir als Individuum und als Gesellschaft tun? Sind wir bereit Verzicht zu üben, um gegen den Angriff auf unsere gesellschaftliche Ordnung zu kämpfen?